F. Loetz: Sexualisierte Gewalt 1500–1850

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Titel
Sexualisierte Gewalt 1500–1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung


Autor(en)
Loetz, Francisca
Reihe
Campus Historische Studien 68
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
249 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Maurice Cottier, Historisches Institut, Universität Bern

Francisca Loetz’ Studie zu «sexualisierte[r] Gewalt» in Zürich zwischen 1500 und 1850 reiht sich in die historische Gewalt- und Kriminalitätsforschung ein, welche seit den 1980er Jahren anhand von Gerichtsakten die Gerichtbarkeit sowie die Lebenswelten europäischer frühneuzeitlicher Gesellschaften untersucht. Während sich ältere Arbeiten zur Gewaltthematik vor allem mit den klassischen Delikten Mord, Totschlag und Körperverletzung auseinandersetzten, folgt die Studie einem jüngeren Forschungstrend, auch sexuelle Gewalt in die Geschichte der Gewalt zu integrieren.

Die Studie beginnt mit einer allgemeinen Diskussion des Gewaltbegriffs. Die Autorin tritt dabei für ein soziologisches Verständnis von Gewalt ein, das danach fragt, welchen «Wert eine Gesellschaft Gewalt beimisst» (S. 14). Grundsätzlich geht es darum, Gewalthandlungen nicht als menschliche Affekt- oder Triebhandlungen zu verstehen, die vollständig unabhängig des sozialen und kulturellen Kontexts existieren. Vielmehr sollte Gewalt als soziales Handeln und damit Teil der jeweiligen sozialen Ordnung untersucht werden. Dadurch wird eine Historisierung von Gewalt möglich. Soweit ist der Autorin zuzustimmen. Allerdings ist der Argumentation an manchen Stellen nur schwer zu folgen. So bleibt beispielsweise der Versuch einer allgemeinen Definition von Gewalt widersprüchlich. Loetz ist es ein Anliegen, einen allzu engen Fokus der Gewaltforschung auf Körperlichkeit zu verhindern, weshalb sie auch strukturelle und psychische Zwänge als Gewalt kategorisiert. Um einer drohenden Verwässerung des Gewaltbegriffs entgegenzuwirken, wird Gewalt definiert als «eine Normüberschreitung […], die eine Gesellschaft für unerträglich hält» (S. 17). Dadurch wäre im Grunde jede Normverletzung ein Gewaltakt. Wenn aber Gewalt im frühneuzeitlichen Kontext nach Loetz auch «ritualisierte Form sozialen Handelns» sein konnte, scheint die Definition der Gewalt als «Normüberschreitung» unmittelbar wieder in Frage gestellt (S. 19).

Der Hauptteil des Buches baut auf der Auswertung von rund 250 Gerichtsakten zu den Delikten «Notzucht» und «Missbrauch» aus Zürich in der Frühen Neuzeit und der Sattelzeit. Die Abhandlungen zeichnen sich durch eine grosse Quellennähe aus. Loetz rekonstruiert auch die Sozialprofile der Angeklagten und der Opfer sowie Ort und Zeit der einzelnen Gewalttaten. Dabei wird deutlich, dass im Zürcher Setting sexuelle Gewalt von Männern aus allen Gesellschaftsschichten an Frauen und Mädchen ausserhalb, aber auch innerhalb des Heims und der Familie begangen wurde. Das Hauptaugenmerk der Auswertung liegt jedoch nicht auf den eigentlichen Gewalttaten, sondern auf den gerichtlichen Verfahren und den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Angeklagten und Opfer, vor Gericht über die Gewalttaten zu sprechen. Mithilfe von zahlreichen Beispielen wird multiperspektivisch aufgezeigt, wie Richter, an der Gewalttat beteiligte Akteure sowie deren soziales Umfeld sexuelle Gewalt wahrnahmen.

Durch die Methode des close reading der Gerichtsakten gewinnt Loetz wichtige Einblicke in die Zürcher Gerichtspraxis in der Frühen Neuzeit und Sattelzeit. Der Autorin gelingt es beispielsweise überzeugend darzulegen, dass das Gericht Anzeigen konsequent verfolgte und die Angeklagten meist auch für schuldig hielt. Die von älteren Forschungen vertretene These, dass frühneuzeitliche Gerichte die Verfolgung und Bestrafung sexueller Gewalt durch hohe juristische Hürden erschwerten, ist für Zürich daher nicht haltbar. Gleichzeitig zeigen die Akten eindrücklich, dass sexuelle Gewalt als Verletzung der weiblichen Ehre wahrgenommen wurde. Ein Gerichtsurteil konnte dabei die Reputation wiederherstellen. Es mag aus heutiger Sicht paradox anmuten, dass Opfer – um ihre Ehre zu wahren – bis ins 19. Jahrhundert vor Gericht eine Eheschliessung mit dem Gewalttäter erzwingen konnten. Ein weiterer interessanter Befund besteht darin, dass vor Gericht ausführlich über sexuelle Handlungen gesprochen wurde. Von einer Tabuisierung des Sexuellen im vormodernen Kontext kann daher nicht ausgegangen werden. Allerdings streicht Loetz in diesem Zusammenhang heraus, dass Angeklagte in der Regel keine Motive für ihre Tat nannten und die Opfer nicht über psychische Folgen der Übergriffe sprachen. Wenn es um die Verletzlichkeit der Opfer ging, rückten diese körperliche Beschwerden und die Schädigung ihres Ansehens in den Vordergrund. Schliesslich richtet Loetz den Blick auf die Strafpraxis des Gerichts. Einmal mehr zeigt sich, dass die frühneuzeitliche Strafjustiz keineswegs nur drakonische Strafen verhängte, sondern über ein ausdifferenziertes Instrumentarium verfügte, das Strafmass situativ und individuell anzupassen. Im dritten Teil des Buches führt Loetz ihre theoretischen Ausführungen mit den empirischen Resultaten zusammen. Dabei vermag das im Untertitel des Buches versprochene «Plädoyer für eine historische Gewaltforschung» nicht restlos zu überzeugen. Insbesondere bleibt unklar, welche neuen Perspektiven eröffnet werden, die über die bereits bekannten Ansätze der historischen Kriminalitätsforschung hinausgehen. Die Stärken der Studie liegen daher im geschmeidigen Umgang mit den Quellen, durch den die Autorin ein facettenreiches Bild über die Wahrnehmungen gewaltsamer Sexualität im Zürich der Frühen Neuzeit und der Sattelzeit nachzuzeichnen vermag.

Zitierweise:
Maurice Cottier: Rezension zu: Francisca Loetz, Sexualisierte Gewalt 1500–1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 461-462.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 461-462.

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